Für Bindungsorientierte
Erziehung & Förderung

Bedürfnisorientierte Erziehung schön und gut

Bedürfnisorientierte Erziehung schön und gut

Und wo bleibe ich? Aus dem Leben einer Mutter.


Ein ganz normaler Tag mit Kindern: früh aufstehen, schuckeln hier, organisieren dort, stillen, vorlesen, Kinder von hier nach dort fahren, aufmerksam zuhören, tragen, dies und das besorgen, Essen machen und und und. Also gefühlt für alles und jeden sorgen – und das natürlich in liebevoller und freundlicher Art und Weise: nicht aufbrausend oder genervt, sondern mit viiiiel Geduld…

Ich denke, die meisten Mütter wissen ganz genau, wovon ich rede. Doch eine Frage taucht früher oder später ganz sicher auf: Wo bleibe ich? Und was ist mit meinen Bedürfnissen? Für mich als Mama von drei Kindern ist es immer wieder eine große Herausforderung, für mich selber gut zu sorgen und im Alltag nicht völlig unterzugehen. Gerade wir Mütter haben ab dem Tag der Geburt unseres Kindes ja zumeist einen riesigen Anspruch an uns selbst. Und viele Ideale, an denen wir uns orientieren.

Zwischen Idealen und Wahnsinn


Je bemühter wir als Eltern sind, eine enge Beziehung zu unseren Kindern zu leben, sie ernst zu nehmen, ihre Bedürfnisse zu sehen und diese auch zu stillen, umso weniger Raum und Zeit scheint für einen selbst zu bleiben. Bei dem seltsamen Völkchen der „bedürfnisorientierten Öko-Mamis“ scheint sich das noch zu verstärken: langes Stillen, bloß keinen Schnuller, windelfrei, ständig tragen, keinen Zucker, Ökoklamotten, natürlich keine gekaufte Babynahrung, sondern nur Selbstgekochtes und diese Liste ließe sich noch um ein Vielfaches erweitern. Wir wollen möglichst alles für unser Kind richtig und gut machen und verlieren uns selbst dabei oftmals aus den Augen.

Leider kommt erschwerend hinzu, dass unseren Aufgaben nur wenig Wert und Anerkennung zukommt. Wir sind ja schließlich „nur“ Mütter. Gerade dann, wenn wir dann auch noch „nur“ zu Hause sind und keinem Beruf nachgehen. Das kann ja nun wirklich nicht so schwer sein. Leider können sich viele Mütter nur schlecht von diesem Gefühl frei machen. Zusätzlich vergleichen wir uns in dem Streben, alles richtig und gut zu machen, mit anderen Müttern. Damit setzen wir uns noch mehr unter Druck, anstatt uns gegenseitig zu unterstützen und vielleicht auch einmal um Hilfe zu bitten. Als „gute“ Mutter müssen wir natürlich alles allein schaffen – so wie vermeintlich alle anderen auch. Und fragen erst um Hilfe, wenn es eigentlich schon viel zu spät ist.

Was für ein kranker Wahnsinn – und ich oft genau mittendrin. Und das soll meinem Kind helfen und guttun?

Auch Mamas haben Bedürfnisse


Für mich und alle Mamis, die wissen, wovon ich rede: Lasst uns ehrlicher zu uns selbst sein und nach unseren Bedürfnissen schauen. Was nützt es meinem Kind, wenn ich es windelfrei erziehe, aber das für mich in einen riesigen Stress ausartet? Oder es drei Jahre stille, aber keine Freude dabei habe und es nur noch als Belastung empfinde.

Ich habe unseren Sohn fast so lange gestillt. Und irgendwann habe ich das Stillen nur noch als anstrengend empfunden, da er gefühlt ständig gestillt werden wollte. Ich habe teilweise gemerkt, wie richtige Aggressionen in mir beim Stillen hochkamen. Denn natürlich habe ich nach Bedarf gestillt, und das hieß zu dem Zeitpunkt für mich: immer, wenn mein Sohn gestillt werden wollte.

Doch dann hatte ich glücklicherweise ein Erlebnis mit einer Freundin, die ihre Tochter ebenfalls noch stillte. Die Tochter meiner Freundin war damals zwei Jahre alt und wir waren mit unseren Kindern am See. Ihre Tochter kam zu ihr auf den Schoß und gab ihr zu verstehen, dass sie gestillt werden wollte und meine Freundin sagte daraufhin einfach: „Nein, ich möchte jetzt nicht.“ Und da wurde es mir auf einmal klar: Ich bin doch genauso Teil der Stillbeziehung zu meinem Kind. Und ich kann „Nein“ sagen, wenn ich gerade nicht stillen möchte. (Natürlich handelte es sich dabei um ein Kind, dass zu diesem Zeitpunkt nicht mehr ausschließlich auf das Stillen als Nahrungsquelle angewiesen war.)

Zu einer glücklichen Beziehung gehören immer zwei


Das war wirklich ein emotionaler Befreiungsschlag für mich und ich habe prompt ab dem gleichen Tag begonnen, ebenso nach mir zu schauen und „Nein“ zu sagen, wenn ich gerade nicht stillen wollte. Anfangs war das für unseren Sohn natürlich nicht ganz einfach, aber er hat sich sehr schnell daran gewöhnt. Das hat unsere Stillbeziehung wieder richtig schön werden lassen. Und das Interessante war: Mein Sohn wollte auf einmal gar nicht mehr so oft gestillt werden, weil die Stillzeit jetzt auch für mich erfüllend war. Und so konnte er innerlich viel „satter“ werden und brauchte das Stillen nicht mehr so häufig.

Unsere Kinder brauchen wirklich mehr Mütter – und natürlich auch Väter -, die gut für sich selber sorgen und ehrlich zu sich und ihren eigenen Kapazitäten und Grenzen sein können. Sie lernen am meisten am Vorbild. Und wenn wir wollen, dass unsere Kinder später gut für sich selbst sorgen können, müssen wir ihnen auch genau das bei uns selbst vorleben.

Ein tragischer Verlust


Die eine oder andere mag nun vielleicht denken: „Schön und gut, stimmt ja alles. Aber ich habe wirklich keine Ahnung, wie ich das umsetzen soll. Ich habe niemanden, auf den ich zurückgreifen kann und durch den ich entlastet bin und mal an mich denken kann.“ Und genau das ist auch wirklich ein Problem in unserer Gesellschaft. Die starke Idealisierung von Unabhängigkeit und Individualismus hat dazu geführt, dass wir zumeist sehr isoliert leben: Mein Haus, mein Auto, mein Schrebergarten. Und meine 1,59 Kinder (im Bundesdurchschnitt).

Meines Erachtens sind wir Menschen für ein solches Kleinfamilientum, wie es in unseren Breitengraden vorherrschend ist, nicht gemacht. Es entspricht einfach nicht unserer Spezies. Und schon gar nicht den Anforderungen eines Lebens mit Kindern. Wir haben etwas Kostbares weitestgehend verloren: das Zusammenleben als Gemeinschaft, im Verbund als Großfamilie oder als Dorf mit mehreren Generationen. Ich weiß sehr wohl, welche Herausforderungen und teilweise auch negative Randerscheinungen das mit sich bringen kann. Aber gleichzeitig steckt auch ein großer Schatz darin. Nicht nur für uns als Eltern, weil wir Entlastung haben und vielleicht mehr Freiräume; sondern auch und besonders für unsere Kinder.

Es braucht ein ganzes Dorf… oder zumindest die Tanten


Ich merke an unseren Kids immer, wie gut es ihnen tut, wenn wir eine Woche Urlaub mit der Familie machen und mehrere Erwachsene Ansprechpartner vorhanden sind. Dann ist irgendwo immer ein Schoß frei, jemand hat ein offenes Ohr und kann sich dem Kind widmen. Es sind dann auch andere da, die mit für die Sättigung nach Bindung sorgen können. Und nicht jeder Konflikt muss mit Mama oder Papa ausgetragen werden, sondern vielleicht auch mit der coolen Tante Lisa, die einen ganz anderen Weg mit dem Kind findet und nicht die selben „Triggerpunkte“ hat wie wir – wie gut!

Uns als Familie ist es daher ein essenzielles Anliegen, wieder mehr und mehr solch ein Netz an Beziehungen aufzubauen und das Leben in Gemeinschaft wieder mehr zu etablieren. Für mich. Für uns als Paar. Und für unsere Kinder.

Achtsamkeit beginnt bei uns


Aber auch ohne dieses ideale Netz können und sollten wir im Kleinen anfangen, auf uns selbst zu achten. Es hilft nichts, irgendwelchen Idealen hinterher zu rennen und selbst dabei auf der Strecke zu bleiben. Auch im Flugzeug ist dem Kind nicht geholfen, wenn wir ihm zuerst die Sauerstoffmaske aufsetzen. Die klare Ansage des Bordpersonals rund um den Globus lautet: Erst die Eltern, dann die Kinder. Denn was hilft es einem Kind, allein im Flugzeug mit lauter kollabierten Erwachsenen zu sitzen.

Gleiches gilt auch auf dem Boden des bedürfnisorientieren Erziehungsalltags. Was nützt es einem Kind, bis acht Jahre im Familienbett zu schlafen, wenn sich die Eltern dann aufgrund fehlender Nachtruhe und eines verkümmerten Sexuallebens scheiden lassen. Wir müssen schauen, was wir realistisch und gut umsetzen können von den Dingen, die wir „eigentlich“ mit unserem Kind leben wollen. Das wir manche Dinge nicht hinkriegen, ist dann vielleicht schade, auch mal traurig, aber ok. So ist das Leben. Wir sind auch nur Menschen, die ihr Bestes geben und dennoch manchmal an uns selbst scheitern. Sich dies eingestehen zu können, ist auch eine wichtige und wertvolle Fähigkeit, die wir an unsere Kinder weitergeben können.

Also ihr lieben Mütter (und natürlich auch Väter ;-): Lasst uns gnädig mit uns selbst sein und uns und unsere Bedürfnisse ernst nehmen. Unsere Kinder (und Partner) werden es uns danken!

Alles Liebe,
eure Anne

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Anne
Motzkuhn
Anne ist dreifache Mutter, qualifizierte Tagespflegeperson und im bindungsorientierten Entwicklungsansatz des kanadischen Entwicklungspsychologen und Bindungsforschers Prof. Dr. Gordon Neufeld geschult. Durch ihr Engagement in einem gemeinnützigen Schulungszentrum hat sie langjährige Erfahrung in der Jugend- und Seminararbeit. Neben ihrem „Job“ als Mama ist Anne fortwährend dabei, ihr Erfahrungswissen zu vertiefen und zu erweitern – ob durch den Besuch von Fortbildungen, Pikler-Spielgruppen usw. oder durch diverse Seminare oder Bücher. Mit den eigenen sowie den anvertrauten Pflegekindern befindet sich Anne im täglichen „Liveabgleich" von Theorie und Praxis.