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Rettet das Spiel!

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Rettet das Spiel – herzriese Blog

Warum Spielen kein Kinderkram ist. Vom Wert des Spielens.


„Warum spielen wir nicht alle die ganze Zeit? Seit Jahren frage ich mich jetzt, warum Erwachsene die Einladungen der Kinder, in ihre Welt einzutauchen und mit ihnen zu spielen, nicht annehmen. Warum wir nicht mit den Kindern hinauslaufen und Schneeflocken mit der Zunge fangen, den Regentropfen auf Fensterscheiben zuschauen, in Haufen von Herbstlaub springen, und Hügel hinunterrollen, loslaufen und geheime Orte entdecken. Wir haben den Herzschlag des Spiels als Eingebung aus unserem tiefsten Inneren erlebt. Aber wir lehnen die Einladungen weiter ab. Warum fällt es uns so schwer, uns dem Spiel der Kinder anzuschließen?“ Fred O. Donaldson

Genau diese Fragen beschäftigen mich auch schon seit einigen Jahren. Ich erlebe es an mir selbst und auch bei vielen anderen Erwachsenen: Wir haben es verlernt zu spielen.

Spiel ist …Kinderkram?


Es kommt immer wieder vor, dass wir Erwachsene das Spiel unserer Kinder nicht besonders ernst nehmen. Wir belächeln es, tun es als nett oder niedlich ab. Manchmal auch als kindisch. Es gehört zwar zur Kindheit dazu und häufig begrüßen wir es auch; besonders, wenn es uns Erwachsenen Ruhepausen ermöglicht. Aber so wirklich von großer Bedeutung ist das Spiel für uns eigentlich nicht. 

Nur selten sehen wir einen echten Wert darin. Eher Kinderkram, kindlicher Luxus, losgelöst vom „echten Leben“. Bevor irgendwann das Alter kommt, in dem sich unsere Kinder den „wichtigen Dingen“ des Lebens zuwenden. So wie wir Erwachsene.

Spielen verboten


Noch seltener erleben wir es, dass Erwachsene ausgelassen und vertieft mit ihren Kindern spielen. Wenn überhaupt, geschieht dies meist nur in den eigenen vier Wänden. Dort, wo man nicht von anderen komisch beäugt werden kann. Denn irgendwie fühlen wir uns dabei unwohl. Und eine Stimme in uns sagt, dass man sich als Erwachsener doch eigentlich nicht so „albern“ benehmen kann.

Also tauchen wir selten wirklich in das Spiel von Kindern mit ein. Lassen uns nicht mitnehmen in ihre magische, geheimnisvolle Welt der Mythen und Quatschigkeiten. Einer Welt voller Wunder und: Leben.

Von Herzen spielen 


Der Spielexperte Fred O. Donaldson beschreibt eine Szene in seinem Buch „Von Herzen spielen“, die genau das beschreibt:

„Als ich heute Morgen auf meiner Veranda saß und las, radelte Chris, der Junge von nebenan, auf seinem Fahrrad die Auffahrt herunter. Er bremst abrupt und vertraut mir an, dass er ein Geheimnis habe, beugt sich näher zu mir und lädt mich ein, mit ihm den Baum zu besuchen, wo die Trolle wohnen. „Es ist nicht weit“ , versichert er mir. Begeistert von der Aussicht auf solch ein Abenteuer, lege ich mein Buch beiseite und wir brechen auf. Er führt mich durch eine Straße in der Nähe zu einer riesigen Zeder mit einer langen, engen Öffnung, die in ihre dunkle Mitte führt. Chris legt den Finger auf die Lippen, um mir zu signalisieren, still zu sein. „Sie haben gesagt, man könne ruhig hereinkommen, auch wenn niemand zu Hause ist“, flüsterte er und versichert mir: „Ich habe das schon mal gemacht.“ Wir zwingen uns durch die Öffnung hinein, warten ein paar Minuten still in der dunklen, feuchten, duftenden Mitte des Baumes und Zwängen uns dann wieder hinaus, gewandelt.

Auf dem Rückweg sind wir beide still. Auch wenn meine Füße fest die Erde berühren, gehe ich, als schwebte ich in der Luft. Dann beginne ich mich zu fragen, was passiert ist, und genau diese Frage ist wie eine Stecknadel, die das Erlebnis platzen lässt. Plötzlich gehe ich wieder auf der Straße und betrachte Häuser und Bäume. Das Erlebnis verschwindet wie ein Traum. Und doch war es kein Traum. Während wir um die Ecke in unserer Straße biegen, schaue ich mich noch einmal nach dem Baum um. Es sieht jetzt anders aus. Ich bin zurück in meiner üblichen Welt, und doch ist diese nicht ganz dieselbe wie zuvor.

Die meisten Erwachsenen, die diese Geschichte hören, sind verblüfft darüber, dass ich sie für wahr halten könnte: ‚Natürlich hast du nur dem Kind zuliebe getan, als wäre das alles Wirklichkeit. Du glaubst doch nicht wirklich an Trolle, oder?‘ Ihre Skepsis ordnet solch ein Erlebnis als Fantasie ein. Manche Erwachsene jedoch fragen aufgeregt: „Wo ist dieser Baum?“ Diese beiden Fragen gehen von völlig verschiedenen Annahmen aus. Das Kind in uns ist begierig darauf, diesen Baum aufzusuchen. Der Erwachsenen gar nicht wahr, dass es ihn gibt.“

Zurück nach Narnia


Nun, ich vermute, die meistens von uns hätten die erste Frage gestellt. Ich gehöre auch dazu. Leider. Wenn ich aber genau in mich hineinspüre, ist da etwas, was sich danach sehnt. Für einen Moment raus aus der korrekten, aber irgendwie auch toten Erwachsenenlogik. Für einen kurzen Augenblick den Mut haben, mich in diese geheimnisvolle Welt wieder hinein zu wagen. Zuzulassen, dass das Erlebnis „echt“ war. Natürlich nur „im Spiel“.

Wir Erwachsenen gehen oft so ernst, verkopft und leider auch mit eingeschränktem Blick durchs Leben. Wir sehen den „Zauber“, das Mystische, das Göttliche nicht mehr. Dabei ist es überall. Und lädt uns ein, mit einzutreten in das „große Ganze“. Zu erleben, dass wir mit allem verbunden sind. Das Spiel ist die Tür dort hinein. Der Schrank nach Narnia (für alle von euch, die die Narnia-Geschichten kennen :).

Wir haben es verlernt, zu spielen


Das Problem: Oftmals wissen wir Erwachsenen gar nicht (mehr), wie wir wirklich spielen können. Wir haben es verlernt. Oder haben in unserer eigenen Kindheit selbst kaum gespielt. Wir wissen nicht mehr, wie man sich als echter Spielgefährte verhält. Ohne unsere üblichen Rollen als Eltern, Lehrer oder XY-Experte fühlen wir uns unsicher. Denn dann haben wir nichts mehr, woran wir uns festhalten können. 

Ich denke, das ist ein Hauptgrund, warum wir das Spiel unserer Kinder oftmals wie ein Fremdkörper begleiten. Beobachtend, mehr als „Betreuungspersonal“. Wir moderieren es, schreiten ein, wenn es aus unserer Sicht notwendig ist. Oder wir zeigen, „wie es (richtig) geht“, leiten an. Aber wir spielen nicht wirklich mit.

Wer ist dieser Ernst? Und was will er von mir?


Als unsere Tochter eingeschult wurde, hörten wir immer wieder von Außenstehenden den gleichen Satz: „Tja, nun beginnt der Ernst des Lebens.“ Ganz nach dem Motto: „Das ewige Spielen (was ja eh keine große Bedeutung hatte) und die Sorglosigkeit hat nun ein Ende. Jetzt ruft die Pflicht. Denn das Leben ist schließlich kein Ponyhof. Du musst etwas tun, damit aus dir was wird. Mit Spielen kommst du da nicht weit.“ Aber woher kommt diese Sicht?

Tja, jahrelanges Training würde ich sagen. Konditionierung. Wir wurden über Jahrzehnte hinweg in unserer Kultur genau so geprägt. Insbesondere unsere Eltern und Großeltern. „Wenn wir etwas erreichen wollen, dann geht das nur durch harte Arbeit.“, „Erst die Arbeit, dann das Vergnügen.“ Erwachsene, die beispielsweise während der Weltwirtschaftskrise aufwuchsen, hatten oftmals keine Zeit zum Spielen. Spielen war ein Luxus, den sich nicht jeder leisten konnte. Und ein Teil derer, die es konnten, mussten sich „benehmen“, „vernünftig sein“ oder durften sich „nicht schmutzig machen“, um ihrem Stand gemäß aufzutreten.

Spiel – (k)ein Luxusgut


Heutzutage hätten wir eigentlich die Möglichkeit auf diesen „Luxus“. Aber dennoch ist kaum Raum dafür da. Wir sind eine Leistungsgesellschaft und geeicht auf Erfolg, Zielerreichung und Anerkennung. Und das geben wir auch schon früh, oft subtil, an unsere Kleinsten weiter. Das Spiel kommt darin nicht besonders gut weg. Denn damit ernten wir weder Anerkennung noch (direkten) Erfolg. Und Geld verdient man damit zumeist auch nicht (eine Karriere als Clown, Comedian oder E-Sport-Profi mal ausgenommen).

Die aktuelle Forschungslage der Neuro- und Entwicklungspsychologie sieht das anders. Kinderspiel ist längst anerkannt als die „Geheimwaffe“ und Grundlage gesunder Persönlichkeitsentwicklung. Ob gesundes Selbstbewusstsein und Eigenständigkeit, die Fähigkeit, kreative Lösungen für Probleme und Herausforderungen zu finden oder die Herausbildung von Empathie und sozialem Verantwortungsbewusstsein: Für all dies bildet dieses freie, fantasievolle, kreativ-schöpferisch-chaotische Kinderspiel die essenzielle Basis.

Kurz ausgedrückt: Ohne Spiel, keine Reife. Also genau das Gegenteil unser oben beschriebenen kulturellen Sicht. Spiel als gleich unnützes Luxusgut? Keineswegs. Im Gegenteil.

Stocklose Augen überall


Den Ausschnitt eines Songs namens „Einfach klein sein“ von „Deine Freunde“ (eine tolle HipHop-Band für Kids, die sehr gute lebensnahe deutsche Texte machen) finde ich an dieser Stelle sehr treffend:

„Von nix kommt nix, doch von viel kommt zu viel.
Ich bin zu jung, um zu erkennen, das Leben ist kein Spiel.
Denn wenn ich ehrlich bin, auf Spielen hab‘ ich Bock,
Und ich meine nicht Memory, heute reicht mir schon ein Stock.

Doch ich werd‘ beobachtet von stocklosen Augen,
Die nicht mit mir fühlen, weil sie nicht an Stock glauben.
Deswegen soll ich mich um wichtige Dinge kümmern,
Richtige Dinge kümmern, nicht die im Kinderzimmer.“

Wie wahr. Das ist wirklich ein großes Dilemma für unsere Kinder. Und wie wir anfangs gesehen haben auch für uns selbst. Durch diese „stocklose“ Sicht nehmen wir unseren Kindern und uns nicht nur das Erleben des „großen Ganzen“, das Gefühl von Verbundenheit, Versöhnung und tiefe Begegnungen im Spiel miteinander. Wir verkennen auch die Bedeutsamkeit von Spiel. Ja, sogar die Lebensnotwendigkeit.

Nicht jedes Spiel ist echtes Spiel


Wie oben schon erwähnt, ist Spiel wahrhaft essentiell wichtig für unserer emotionale und seelische Gesundheit. Und ein wahrer Schlüssel fürs Lernen und die Reifeentwicklung.

Da das Wort „Spiel“ heutzutage in aller Munde ist und für so viele unterschiedliche Dinge benutzt wird, müssen wir etwas genauer hinschauen. Das Spiel, das die beschriebene Entwicklungspower in sich trägt und somit von großer Wichtigkeit ist – nennen wir es mal „echtes Spiel“ – hat nämlich ganz klare Eigenschaften:

  1. Spiel ist nicht real. Und das Kind weiß das auch. Es drohen also keine Konsequenzen im echten Leben und auch die Bindungen sind nicht gefährdet, denn es ist ja nicht „echt“.

  2. Spiel ist niemals Arbeit. Es dient keinem Zweck und ist nicht auf ein bestimmtes Ergebnis oder (pädagogisches) Ziel ausgerichtet. Der Sinn und Zweck liegt voll und ganz im Spiel selbst.

  3. Spiel ist ausdrucksstark. Das heißt, es ist immer eine Expression, ein Ausdruck der eigenen Persönlichkeit, von innen nach außen, nicht umgekehrt. (An dieser Stelle wären damit beispielsweise die meisten PC- und sonstigen „Spiele“ raus; alles, was eine Geschichte vorgibt, in der ich „funktionieren“ muss).

  4. Spiel ist immer zeitlich begrenzt, mit einem klaren Anfang und einem klaren Ende.

Spiel macht sozial


Tätigkeit nicht auf ein Ergebnis ausgerichtet ist. Wenn wir unsere Kinder an solchen Orten beobachten, fällt eines immer wieder auf: Sie spielen immer das, was sie erlebt haben, nach. Das, was sie beschäftigt und das, was sie fühlen – auf unterschiedlichste Art und Weise. 

In dieser freien Art zu spielen können unsere Kinder Erlebtes verarbeiten und die ganze Bandbreite an Emotionen kennenlernen und fühlen dürfen ohne negative Folgen befürchten zu müssen. Damit sorgt das Spiel für einen ausgeglichenen „Emotionshaushalt“ und kann sogar nachgewiesen therapeutische Wirkung entfalten. Wow, wie genial! So trägt das Spiel unbemerkt und „ganz von allein“ massiv dazu bei, dass sich unsere Kinder zu ausgeglichenen und sozialverträglichen Menschen entwickeln.

Erst das Vergnügen, dann das Lernen


Doch damit nicht genug: Wir brauchen das Spiel nicht nur für unsere emotionale Gesundheit, sondern auch als Schlüssel für echtes Lernen. Ganz entgegen der Auffassung „Erst die Arbeit, dann das Vergnügen“, hat die Gehirnforschung mittlerweile festgestellt: Erst das Vergnügen, dann die (Lern-)Arbeit!

Wir lernen dort am besten und erbringen dort unsere beste Leistung und Ergebnisqualität, wo wir etwas mit Begeisterung und Freude tun. Paradoxerweise genau da, wo wir frei sind von äußerer Beurteilung und dem Druck, ein bestimmtes Ergebnis erbringen zu müssen. Also absolut an dem Ort des echten Spiels – wie wunderbar und wie einfach!

Ich bin immer wieder begeistert vom echten Spiel und seiner immensen Kraft, die wir keinesfalls unterschätzen dürfen. Und das gilt nicht nur für unsere Kinder, sondern auch für uns selbst!Hierzu gäbe es noch viel zu sagen und zu entdecken, was an dieser Stelle allerdings deutlich den Rahmen sprengen würde. Wer aber tiefer in dieses Thema und die Entwicklungszusammenhänge eintauchen möchte, dem empfehlen wir unseren Basiskurs.

Buchempfehlung: „Original Play“ von Fred O. Donaldson


Also wagen wir den Sprung in die geheimnisvollen Welten unserer Kinder. Lassen wir uns durch sie inspirieren und begeistern. Und vor allem: Lasst uns dafür sorgen, dass unsere Kinder viel Zeit an diesem Ort echten Spiels verbringen können. Wo sie frei sind, ganz sie selbst zu sein, und auch andere sein zu lassen. Der Ort von tiefer Sicherheit und Geborgenheit. An dem sie keinen Zweck erfüllen müssen und auch kein Ergebnis vorzuweisen brauchen. Dem Ort von Frieden und echten Begegnung.

Fred O. Donaldson ist ein wunderbares Vorbild, wenn es um echtes Spiel geht. Und eine wahre Inspiration, um auch als Erwachsener dort wieder neu hineinzutreten. Er hat zwei Bücher geschrieben, die sehr lesenswert sind und macht eine tolle Arbeit mit „Original Play“. Wer von euch Erwachsenen also wieder anfangen will echt zu spielen, ist bei ihm genau richtig.

In diesem Sinne: Eine verspielte Vorweihnachtszeit euch! 🙂

Eure Anne

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Anne
Motzkuhn
Anne ist dreifache Mutter, qualifizierte Tagespflegeperson und im bindungsorientierten Entwicklungsansatz des kanadischen Entwicklungspsychologen und Bindungsforschers Prof. Dr. Gordon Neufeld geschult. Durch ihr Engagement in einem gemeinnützigen Schulungszentrum hat sie langjährige Erfahrung in der Jugend- und Seminararbeit. Neben ihrem „Job“ als Mama ist Anne fortwährend dabei, ihr Erfahrungswissen zu vertiefen und zu erweitern – ob durch den Besuch von Fortbildungen, Pikler-Spielgruppen usw. oder durch diverse Seminare oder Bücher. Mit den eigenen sowie den anvertrauten Pflegekindern befindet sich Anne im täglichen „Liveabgleich" von Theorie und Praxis.