Von vollen Terminkalendern, gestressten Kindern und dem Schatz der Natur.
Meine Kindheit war bestimmt nicht perfekt. Und mir ist bewusst, dass im Rückblick immer alles viel rosiger erscheint, als es tatsächlich war. Aber an eins denke ich immer wieder super gern zurück: ans draußen Toben. Ich erinnere mich noch genau daran, wie meine Hände nach Erde und frischem Rindenmulch rochen, nachdem ich völlig erschöpft mit meinen Geschwistern von einer ausgiebigen Blätter- und Rindenmulchschlacht nach drinnen kam. Klar war ich ausgepowert, durchnässt, völlig eingedreckt. Aber: glücklich. Ich war damals neun Jahre alt und meine Geschwister sechs, elf und dreizehn. Meine Kindheit war voll von solchen Erlebnissen draußen an der frischen Luft, im Wald, auf Feldern, im Garten oder am Wasser – egal bei welchem Wetter und egal an welchem Tag. Das wird bestimmt vielen von euch so oder so ähnlich auch bekannt vorkommen. Was ich mich aber frage: Kennen die Kids von heute das auch noch so? Mir scheint, zunehmend weniger.
Der Terminkalender unsere Kinder ist heutzutage oftmals prall gefüllt. Wer keine Ganztagsschule besucht, geht nach erledigten Hausaufgaben, sofern dann noch Zeit ist, zur Nachhilfe, zum Fußballtraining oder zur Musikschule. Nach letzten empirischen Erhebungen an durchschnittlich vier Nachmittagen in der Woche.
„Fördern“ ist das neue Spielen
Und das beginnt nicht erst in der Schule, sondern früh übt – und fördert – sich. Laut Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung besuchen bereits 40 Prozent aller Null bis Dreijährigen organisierte Kurse – von Pekip über Babyschwimmen bis zur musikalischen Früherziehung. Der Grund: Eltern wollen frühstmöglich eine optimale Förderung, trauen sich diese selbst aber immer weniger zu. Es reicht nicht mehr aus, einfach zu Hause zu sein und dem Kind die Möglichkeit zu geben, auf Entdeckungstour zu gehen. Eltern wollen alles aus ihrem Kind herausholen und damit die besten Voraussetzungen für einen erfolgreichen Bildungsweg schaffen.
So sind die Tage unserer Kinder bis ins Kleinste durchgetaktet. Diese Form der Freizeitgestaltung bringt immer mehr Gehetze und Stress mit sich und setzt eines auf jeden Fall voraus: Unsere Kinder müssen funktionieren! Für freies, zweckfreies „Spielen“, wie es noch meinen kindlichen Alltag prägte, bleibt zunehmend wenig Zeit. Noch weniger für das Spiel draußen.
Im Auftrag des Outdoorherstellers Kamik hat das Marktforschungsinstitut Ipos 2018 eine unabhängige Studie gemacht, in der das Spielverhalten von Kindern zwischen drei und zwölf Jahren untersucht werden sollte. Es wurden 750 Frauen über das Spielverhalten ihrer eigenen Kindheit und das ihrer Kinder befragt. Das Ergebnis ist wirklich traurig: In Deutschland verbringen Kinder 25 Prozent weniger Zeit damit, draußen zu spielen als ihre Eltern das noch taten. Während noch 58 Prozent der Befragten angaben, in ihrer Kindheit jeden Tag draußen in der Natur gespielt zu haben, sind es heute nur noch 33 Prozent. Unsere Kinder haben kaum noch Zeit und Raum, um einfach Kind zu sein und draußen zu spielen. Ich finde, das muss sich dringend wieder ändern! Denn gerade das Draußensein in der Natur ist eine wahre Schatzkammer für unsere Kinder.
Förderung by nature
Die Natur bietet den Kindern so vieles: Bewegung hilft ihnen nachweislich, Stress abzubauen und etwas über ihren Körper zu lernen. Die frische Luft stärkt das Immunsystem. Und es gibt vieles zu entdecken und zu erforschen – also vieles zu lernen, „Förderung by nature“, sozusagen. Und vor allem bietet die Natur einen Ausgleich zu all den Anforderungen, denen die Kinder immer früher ausgesetzt sind. Da müssen sie nicht funktionieren, sondern haben die Möglichkeit, das, was in ihnen ist – ihre Emotionen – auszuspielen und damit Erlebtes zu verarbeiten.
Unsere Kinder brauchen wieder mehr solche Orte, an denen sie nicht kontrolliert oder bewertet werden. Orte, an denen kein Erwachsener zuschaut und überlegt, wie er das Spiel dahingehend lenken kann, dass es „pädagogisch wertvoll“ ist. Gerade nämlich dann entsteht ein magischer Raum, den kein Pädagoge „machen“ kann…Ein Raum, in dem sie frei sind, ihre Fantasie auszuspielen, geheime Orte zu entdecken und sich selbst und ihre Umwelt zu spüren.
Genau in diesem Raum erwächst dann Bildung in ihrer reinsten Form: ein ganzheitliches Er- und Begreifen mit allen Sinnen, was das „Wesen Kind“ nachhaltig prägt. Und nirgendwo entsteht dieser Raum so leicht und reichhaltig wie in der Natur! Die Gehirnforschung hat dies längst bestätigt: Wer will, dass sein Kind gut in Mathe wird, sollte weniger „fördern“ und stattdessen mehr auf Bäume klettern lassen. Denn die hierfür benötigten Verschaltungen im Gehirn sind auch ein Boost für das Verständnis von mathematischen Zusammenhängen.
Draußen wird’s entspannter– auch für Eltern
An meinen eigenen Kindern merke ich immer wieder, was für ein großer Unterschied zwischen dem Spielen draußen und drinnen besteht. Es ist immer entspannter und mit weniger Streit verbunden, wenn wir draußen sind, besonders, wenn wir an einem Ort sind, der nicht begrenzt ist – wie ein Garten vielleicht – sondern viel Weite und Raum bietet. Meine Kinder tauchen dann oftmals in ein sehr intensives Spiel ab und sind kreativ mit dem, was in der Natur vorhanden ist. Stöcker dienen dann als Krücken, Schwerter oder als Stützen eines Hauses, die Pfütze wird zum unüberquerbaren See und Steine sind auf einmal Kartoffeln, die die wilden Tiere satt machen. Sie fühlen dann die Wärme der Sonne auf ihrer Haut oder spüren die Erde unter ihren nackten Füßen. Und wenn man ihnen Zeit und Raum dafür gibt, merkt man, wie sensibel sie mit ihren Sinnen alles aufnehmen. Interessiert. Wissbegierig. Und auf einmal befinden wir uns mitten in der Fotosynthese. Dem Physikunterricht. Dem Umweltschutz. Oder eben Mathe, um die erbeuteten Kastanien gerecht unter den Geschwistern aufzuteilen. Die Natur macht lebendig und begeistert.
Von daher ist meine erste Wahl, besonders an anstrengenden Tagen, an denen es viel Streit gibt: Raus gehen in die Natur! Und so gut wie immer erlebe ich, dass sich die schlechte Stimmung auflöst und verändert.
Wenn auch die Welt um uns herum immer hektischer wird: Wir Eltern können dafür sorgen, dass unsere Kinder zumindest in den Zeiten daheim nicht auch noch funktionieren müssen, sondern Raum und Zeit haben, einfach Kind zu sein – frei und unbeschwert. Vielleicht erübrigt sich dann langfristig sogar der ein oder andere Förderkurs. 😉